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Welche Rolle spielt Indonesien in der Zukunft? (Karte erstellt mit MapChart)

Die zukünftige Rolle von Indonesien in der Welt: WPN-Interview mit Andreas Harsono (HRW)

WPN: Nach zwei Amtszeiten Joko Widodos endet 2024 seine Zeit als Präsident. Mit seinem Amtsantritt 2014 waren viele Hoffnungen verbunden – auch für Westpapua. Welche Hoffnungen haben sich für Westpapua während Jokowis Präsidentschaft tatsächlich erfüllt und welche nicht?

Andreas Harsono:Als Jokowi damals als Präsidentschaftskandidat kandidierte, sprach er primär über ein Hauptanliegen für Westpapua: wirtschaftliche Entwicklung. Er und sein Team waren der Ansicht, dass das Hauptproblem in Westpapua Korruption und die ungleiche Entwicklung waren. Zusätzlich setzte er besonders in Bezug auf die Situation der Menschenrechte in Westpapua zwei Dinge zu Beginn seiner Amtszeit um: im Mai 2015 begann er damit, politisch Inhaftierte zu entlassen und im selben Monat erklärte er, Westpapua für ausländische Journalist*innen öffnen zu wollen. Jokowi war zudem der erste indonesische Präsident, der ein Gefängnis in Westpapua besuchte. Im Mai 2015 besuchte er das Abepura Gefängnis und erteilte die Begnadigung für fünf politisch Inhaftierte Papuas. Während der nächsten zwei Jahre entließ die Jokowi-Regierung weitere politisch Inhaftierte Papuas. Bis Ende 2016 entließ Jokowi alle politisch inhaftierten Papuas.

Was zunächst nach einem positiven Schritt aussah, änderte sich in den nächsten Jahren wieder. Von 2019 bis heute wurden mehr als 300 Papuas wegen ihrer friedlichen politischen Aktivitäten inhaftiert. Das bedeutet, dass die Zahl, der seit 2019 politisch inhaftierten Papuas aktuell höher ist als zum Amtsantritt Jokowis im Jahr 2014.

Für Westpapua bedeutet das weiterhin anhaltende Proteste gegen die immer noch bestehenden Probleme wie Rassismus, Marginalisierung indigener Papuas, Zerstörung der Umwelt, Abschottung Papuas vor der internationalen Presse und dem mangelnden Zugang für unabhängige Menschenrechtsbeobachter*innen und die anhaltende Kritik gegen die Manipulation des Referendums vom Jahr 1969. Präsident Jokowi hat es nicht geschafft, diese dem Konflikt zugrunde liegenden Probleme in Westpapua ausreichend zu adressieren und anzugehen.

Besonders der Zugang für ausländische Journalist*innen nach Westpapua ist etwas, in dem zu Beginn von Jokowis Präsidentschaft viele Hoffnungen lagen. Seit 1967 ist dieser Zugang eingeschränkt. Während der Präsidentschaft von Abdurrahman Wahid (1999-2001) hatten ausländische Journalist*innen freien Zugang nach Westpapua. Mit der Präsidentschaft von Megawati Sukarnoputri (2001-2004) nahmen die Restriktionen jedoch wieder zu. Unter Jokowi wurde einigen wenigen Journalist*innen der Zugang zu Westpapua gewährt. Jedoch war dieser stark limitiert und ihre Berufsausübung daher nicht frei möglich. Damit verstößt Indonesien gegen die Johannesburg Prinzipien, die festlegen, Journalist*innen nur aufgrund einer tatsächlichen Gefahr und nur für eine bestimmte Zeit den Zugang in bestimmte Regionen eines Staates einzuschränken. Westpapua ist jedoch bereits seit 1967 fast durchgehend für ausländische Journalist*innen nicht zugänglich. Jede Woche entscheiden 18 staatliche Einrichtungen und Ministerien wie Polizei, Militär und der Geheimdienst über Anfragen ausländischer Journalist*innen, die Zugang nach Westpapua erhalten möchten. Eine Genehmigung wird nahezu nie erteilt.

WPN: In den letzten Jahren ist viel in der Welt passiert: Die Coronapandemie und der Ukrainekrieg haben die Wirtschaft schwer getroffen. Anstatt das Konzept eines friedlichen Multilateralismus voranzutreiben, ziehen sich viele Staaten wieder in nationalstaatliche Interessen zurück. Gleichzeitig beginnt eine weltweite Aufrüstung und im südostasiatischen Raum die Frage: wie umgehen mit China? Wie sieht Indonesiens Rolle in dieser sich weltweit verändernden Situation aus?

Andreas Harsono: Indonesien spielt mehr und mehr eine geopolitisch wichtige Rolle. Nicht nur, weil Indonesien der größte Staat in Südostasien ist, sondern vielmehr eine vermittelnde Rolle einnimmt und mehr und mehr mit gegenüberstehenden Interessen zwischen China und seinen Verbündeten und den USA und seinen Verbündeten konfrontiert wird. Es gibt viele neue Dynamiken in der internationalen Politik. Auch in Südostasien. Die ASEAN[1] selber ist ebenfalls zerrissen. Staaten wie Kambodscha und Myanmar orientieren sich an Beijing und Staaten wie die Philippinen und Singapur stehen an der Seite der USA. Die ASEAN ist zudem nicht in der Lage, die größte Krise seit der Gründung des Staatenbündnisses zu überwinden: der Konflikt in Myanmar. Internationale Organisationen wie die UN erleben derzeit z.B. eigene Hemmnisse, wie mit den politischen Krisen auf der Welt umgegangen werden kann, wenn China und Russland als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat wiederholt von ihrem Veto-Recht Gebrauch machen. Indonesien selber präsentiert sich als eine Art „balancing actor“ in diesem geopolitischen Machtspiel und betont dabei wiederholt gerne seine weltweite Rolle als größter muslimisch geprägter Staat. Alleine dies ist ein großes Verkaufsargument für Indonesien und seine Position in der (geo)politischen Weltlage. All dies wird es zukünftig noch schwerer machen, ausreichend Aufmerksamkeit auf die Situation in Westpapua zu ziehen.

WPN: Es exportieren weiterhin viele Staaten Rüstungsgüter nach Indonesien – allen voran die USA und Australien. Auch Deutschland hat im Juni 2023 den Export zweier Flugzeuge zugesagt. Wie schafft Indonesien es, auf dem internationalen Parkett die Rolle des demokratischen Partners so erfolgreich zu erfüllen?

Andreas Harsono: Auf dem Papier gibt es in Indonesien eine Demokratie, aber es ist eine unfreie Demokratie. Es ist bekannt, dass Indonesien seine Minderheiten aufgrund des Geschlechts oder der Religion unterdrückt. Indonesien hat zusätzlich erst vor kurzem ein drakonisches neues Strafgesetzbuch verabschiedet. Wie kann es also sein, dass trotz der Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen bürgerlicher und politischer Rechte und Freiheiten, Indonesien mehr Rüstungsgüter bekommt, die wiederum das Leben der Papuas gefährden?  Ganz einfach, wegen des als solchen zu bezeichnenden neuen Kalten Krieges zwischen China und Russland auf der einen Seite und den westlichen Staaten auf der anderen Seite. Hinzu kommen weitere globalpolitische Entwicklungen, die das Weltgefüge in Bewegung bringen und weniger starr erscheinen lassen als noch zu Zeiten des eigentlich Kalten Krieges und andere Staaten machtpolitisch stärken. Neben Indonesien haben auch die Afrikanischen Staaten und die Afrikanische Union (AU) eine immer größere Stimme und auch z.B. Indien wächst in seiner geo- und wirtschaftspolitischen Bedeutung – besonders in der Rivalität zu China.

WPN: Was diese Strategie für Westpapua bedeutet, haben wir an der Entscheidung der MSG[2] gesehen, die ULMWP[3] nicht als Mitglied aufzunehmen. Die Lobbyarbeit Indonesiens, einschließlich der vorangegangen Besuche Widodos z.B. in Papua-Neuguinea mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Versprechungen haben Wirkung gezeigt. Ist damit die Unterstützung des Pazifiks für Westpapua beendet?

Andreas Harsono: Ich hoffe nicht. Die Unterstützung der Menschen im Pazifik für die Papuas wächst mehr und mehr. Das Handeln der Regierungen der Staaten im Pazifik steht jedoch auf einem anderen Blatt. Es ist daher von großer Bedeutung, dass die Zivilbevölkerung im Pazifik weiter über das Leiden der Papuas informiert wird. Die MSG hat ganz offensichtlich gegenüber den Papuas versagt. Gleichzeitig gab es aber auch innerhalb der ULMWP einige Versäumnisse. Dies gibt der ULMWP aber auch die Chance, sich zukünftig besser zu koordinieren und ihre diplomatischen, politischen und kommunikativen Fähigkeiten auszubauen und zu verbessern. Gelingt dies, besteht die Chance, auch weitere Solidarität aus dem Pazifik für die Belange der Papuas aufzubauen. Ich bin Indonesier, meine Position besteht weder darin, die Unabhängigkeit Westpapuas zu unterstützen noch ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu verweigern oder abzulehnen. Ich als Menschenrechtsverteidiger würde es begrüßen, wenn die ULMWP in die MSG eingebunden wird, da es Indonesien sogar nutzen würde. Indonesien hätte so einen Weg zum Dialog und zur direkten Kommunikation mit der ULMWP. Ohne einen Dialog werden die Probleme weiter anhalten und sowohl für die indonesische Regierung als auch für die Zivilbevölkerung, heute und in der Zukunft, eine anhaltende Last darstellen. Ohne einen Dialog werden wir die Probleme in Westpapua niemals beenden können, Menschenrechtsverletzungen werden nie gestoppt werden und die Zerstörung der Umwelt in Westpapua wird niemals ein Ende finden.

WPN: Die kommende Wahl des Präsidenten wird in Westpapua nicht für jede*n eine Wahl sein. Viele Orte und Gemeinden werden nicht mit den entsprechenden Wahlurnen versorgt, um überhaupt für den Präsidenten wählen zu können und dennoch wird besonders Westpapua die Auswirkungen der Wahl zu spüren bekommen. Wie schätzen Sie die Zukunft Westpapuas und den Ausgang der Wahl auf den Konflikt in Westpapua ein?

Andreas Harsono: Die Infrastruktur in Westpapua für die Durchführung einer Wahl ist nicht angemessen, um eine faire und ehrliche Wahl in Westpapua zu garantieren – besonders in den vier neuen Provinzen.  In anderen Provinzen ist es z.B. leichter, digital eine Wahlregistrierung zu überprüfen. Dies ist ein Manko in den sechs Provinzen Westpapuas. Die sechs Provinzen Westpapuas sind jedoch entscheidend, für die Zusammensetzung des Parlaments. Die geringe Bevölkerungszahl in den sechs Provinzen Westpapuas macht es für Kandidat*innen leichter, dort einen Platz zu gewinnen als z.B. in Java. Dies macht es attraktiver, aus diesen Provinzen heraus für einen Platz im Parlament zu kandidieren. Mit der Konsequenz, dass die Qualität der politischen Repräsentant*innen aus diesen sechs Provinzen noch schlechter sein wird als es aktuell schon der Fall ist und in den letzten zwanzig Jahren bereits der Fall war. Ich bin also besorgt, dass die Wahl 2024 und ihr Ausgang keine positiven Entwicklungen für die indigenen Papuas in Westpapua bedeuten werden.


[1] Association of Southeast Asian Nations. Ein Staatenverbund Südostasiatischer Nationen, der 1967 gegründet wurde und zehn Mitglieder hat: Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand, Brunei, Vietnam, Laos, Myanmar und Kambodscha.

[2] Melanesian Spearhead Group. Gruppe von Staaten im melanesischen Raum, die 1983 gegründet wurde. Mitglieder sind Fidschi, Papua-Neuguinea, die Salomonen und Vanuatu sowie die FLNKS aus Neukaledonien. Timor Leste und die Republik Indonesien traten 2011 als Beobachter bei.

[3] United Liberation Movement for West Papua. Politische Unabhängigkeitsbewegung, die 2014 gegründet wurde.


Andreas Harsono bei seinem Besuch in Berlin im September 2023 (Foto: WPN)

Unser Interviewpartner Andreas Harsono ist Journalist und arbeitet seit 2008 für das Jakarta-Büro, der in New York ansässigen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Mit seinem Fokus auf Pressefreiheit und seinem Hintergrund als Journalist half Harsono auch bei der Gründung der Alliance of Independent Journalists in Jakarta im Jahr 1994 und der South East Asia Press Alliance in Bangkok im Jahr 1998. 1995 unterstützte er zudem die Gründung des in Jakarta ansässigen Institute for the Studies on Free Flow of Information und 2003 die Gründung der Pantau Foundation, einer ebenfalls in Jakarta ansässigen Organisation für die Ausbildung von Journalisten.


Das Interview führte das WPN im Herbst 2023. Es erschien in unserem Westpapua Journal 2/2023.