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UN-Experten schlagen Alarm wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in Westpapua und fordern dringende Hilfe – Indonesien kritisiert dies deutlich

Am 1. März 2022 äußerten Francisco Cali Tzay, UN-Sonderberichterstatter für die Rechte der indigenen Völker, Morris Tidball-Binz, UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche, willkürliche oder im Schnellverfahren durchgeführte Hinrichtungen, Cecilia Jimenez-Damary, UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen in einem Expertenbericht ihre Sorge über die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Westpapua (Originalbericht auf Englisch hier)

Die UN-Experten verwiesen auf schockierende Übergriffe gegen die indigene Bevölkerung Papuas, darunter die Ermordung von Kindern, das Verschwindenlassen von Menschen, Folter und Massenvertreibungen von Menschen.

Die Experten forderten dringenden Zugang für humanitäre Hilfe in die Region und forderten die indonesische Regierung auf, umfassende und unabhängige Untersuchungen der Übergriffe gegen die indigene Bevölkerung durchzuführen.

„Zwischen April und November 2021 haben wir Anschuldigungen erhalten, die auf mehrere Fälle von außergerichtlichen Tötungen, auch von kleinen Kindern, Verschwindenlassen, Folter und unmenschliche Behandlung sowie die Zwangsvertreibung von mindestens 5.000 indigenen Papuas durch Sicherheitskräfte hinweisen“, so die Experten. Sie sagten, dass Schätzungen die Gesamtzahl der Vertriebenen seit der Eskalation der Gewalt im Dezember 2018 auf 60.000 bis 100.000 Menschen beziffern.

„Die Mehrheit der Binnenvertriebenen in Westpapua ist aufgrund der starken Präsenz der Sicherheitskräfte und der anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen in den Konfliktgebieten nicht in ihre Häuser zurückgekehrt“, so die Experten. „Einige Binnenvertriebene leben in Notunterkünften oder bei Verwandten. Tausende von vertriebenen Dorfbewohnern sind in die Wälder geflohen, wo sie dem rauen Klima im Hochland ausgesetzt sind und keinen Zugang zu Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und Bildungseinrichtungen haben.“

Abgesehen von Ad-hoc-Hilfslieferungen hätten humanitäre Hilfsorganisationen, darunter auch das Rote Kreuz, nur begrenzten oder gar keinen Zugang zu den Binnenvertriebenen, hieß es. „Wir sind besonders beunruhigt über Berichte, dass humanitäre Hilfe für vertriebene Papuas von den Behörden behindert wird“, fügten die Experten hinzu. „In einigen Gebieten wurde von schwerer Unterernährung berichtet, da der Zugang zu angemessenen und zeitnahen Nahrungsmitteln und Gesundheitsdiensten fehlt. In mehreren Fällen wurden kirchliche Mitarbeiter von Sicherheitskräften daran gehindert, Dörfer zu besuchen, in denen Binnenvertriebene Schutz suchen.

„Uneingeschränkter humanitärer Zugang sollte sofort zu allen Gebieten gewährt werden, in denen sich indigene Papuas nach ihrer Vertreibung befinden. Es muss nach dauerhaften Lösungen gesucht werden.“

Seit Ende 2018 haben die Experten die indonesische Regierung bei einem Dutzend Gelegenheiten über zahlreiche angebliche Vorfälle angeschrieben. „Diese Fälle stellen möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs dar, da der Zugang zu der Region stark eingeschränkt ist, was es schwierig macht, die Ereignisse vor Ort zu beobachten“, so die Experten.

Sie sagten, dass sich die Sicherheitslage im Hochland von Papua seit der Ermordung eines hochrangigen Militäroffiziers durch die Nationale Befreiungsarmee Westpapuas (TPNPB) in Westpapua am 26. April 2021 dramatisch verschlechtert habe. Die Experten wiesen auf die Erschießung von zwei Kindern im Alter von 2 und 6 Jahren am 26. Oktober hin, als Kugeln während eines Feuergefechts ihr jeweiliges Haus durchschlugen. Das 2-jährige Kind starb später.

„Es müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, um die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen gegen die indigene Bevölkerung Papuas zu beenden“, so die Experten und fügten hinzu, dass unabhängigen Beobachtern und Journalisten der Zugang zu der Region ermöglicht werden muss.

„Es sollte sichergestellt werden, dass alle mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen gründlich, schnell und unparteiisch untersucht werden. Die Ermittlungen müssen darauf abzielen, dass die Verantwortlichen, gegebenenfalls auch Vorgesetzte, vor Gericht gestellt werden. Entscheidend ist, dass Lehren gezogen werden, um künftige Verstöße zu verhindern.

Die Experten haben ihre Bedenken gegenüber der Regierung erneut geäußert und sie bestätigen, dass die Regierung eine Antwort auf das Schreiben AL IDN 11/2021 zu den Vorwürfen geschickt habe.


Indonesische Regierung reagiert verärgert und veröffentlicht Stellungnahme zu dem UN-Expertenbericht

Die Indonesische Regierung reagierte prompt auf dieses öffentliche Schreiben der UN und veröffentlichte am 1. März ebenfalls eine öffentliche Stellungnahme auf der Homepage der Ständigen Vertretung Indonesiens bei den Vereinten Nationen in Genf, Schweiz.

In dieser Stellungnahme kritisierte die Indonesische Regierung den Bericht der UN-Experten als „parteiisch“. So stelle dieser Bericht „ein Muster unkonstruktiver und unbegründeter Medienangriffe gegen Indonesien durch bestimmte Mandatsträger für Sonderverfahren“ dar. „Die Entscheidung der Mandatsträger, eine Pressemitteilung über Vorwürfe zu veröffentlichen, die bereits von der indonesischen Regierung angesprochen wurden, ohne auch nur mit einem Wort die Antwort der Regierung auf die Vorwürfe zu erwähnen, ist ein eklatanter Beweis für die Ablehnung eines konstruktiven Dialogs durch die Mandatsträger und ein schamloser Trick zur Selbstdarstellung“, so die indonesische Stellungnahme weiter. In dem indonesischen Statement wird weiter die mangelnde Professionalität der UN-Experten kritisiert und das fehlende Lesen indonesischer Stellungnahmen angemahnt, um „ein besseres Verständnis für die vielen Faktoren, die zur Vertreibung in den Provinzen Papua und West-Papua beitragen, angefangen bei nationalen Katastrophen, von bewaffneten kriminellen Gruppen verwüsteten Häusern, Stammeskonflikten und Konflikten, die sich aus den Ergebnissen der Regionalwahlen ergeben“ zu erhalten. „Hätten sich die Mandatsträger die Zeit genommen, die Antwort der Regierung zu lesen, wüssten sie auch, dass die Behauptung, die „humanitäre Hilfe für vertriebene Papuas werde von den Behörden behindert“, eine dreiste Lüge ist.“, so eine weitere Aussage in dieser Stellungnahme. Der Zugang für das Rote Kreuz oder auch Komnas HAM sei allein aufgrund Sicherheitsbedenken verweigert worden. Grund seien die Handlungen „krimineller bewaffneter Gruppen“.

„Die indonesische Regierung bedauert erneut zutiefst die Entscheidung der zuständigen Mandatsträger, bei der Behandlung der in der Pressemitteilung vom 1. März 2022 enthaltenen Anschuldigungen einen einseitigen Megaphon-Ansatz zu verfolgen. Dieses unkonstruktive Verhaltensmuster untergräbt und sabotiert lediglich den Rahmen der Zusammenarbeit und des Vertrauens, das die indonesische Regierung gegenüber den Mandatsträgern der Sonderverfahren hat.“, so das Ende der Pressemitteilung der indonesischen Regierung als Reaktion auf den UN-Expertenbericht.


Indonesien und UN

In der Vergangenheit haben sich die UN-Experten in mehreren Berichten an die indonesische Regierung gewandt und ihre Besorgnis über die Situation in Westpapua zum Ausdruck gebracht. Letzter Brief AL IDN 11/2021 und vorherige Briefe: IDN 4/2021 (reply 09 Apr 2021), IDN 2/2021 (reply 22 Mar 2021), IDN 4/2020 (reply 15 Sep 2020), IDN 5/2020 (reply 20 Jan 2021), IDN 2/2020 (reply 09 Jul 2020), IDN 7/2019 (12 Sep 2019), IDN 6/2019 (reply 04 Apr 2019), IDN 3/2019 (08 Mar 2019) and IDN 7/2018(14 Dec 2018). Vorwürfe über das gewaltsame Vertreiben Indigener wurden auch erhoben in: IDN 1/2020(reply 01 Jul 2020), IDN 8/2019 (reply 21 Nov 2019 and 14 Feb 2020) and IDN 6/2019 (reply 04 Apr 2019).

Menschenrechtsorganisationen kritisieren bereits seit längerem, dass ein Besuch des OHCHR in Westpapua stattfinden solle. Ebenso zählt Indonesien zu den Ländern, die keine Dauereinladung für alle UN-Sonderverfahren ausgesprochen haben. Eine Dauereinladung ist eine offene Einladung, die eine Regierung an alle thematischen Sonderverfahren richtet. Mit einer Dauereinladung kündigen die Staaten an, dass sie stets Besuchsanfragen aller Sonderverfahren annehmen werden.

Zuletzt äußerte sich Vizepräsident der Kommission / Hoher Vertreter der Union für Außenpolitik und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, dazu und betonte, dass die EU Indonesien ermutige, dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte einen Besuch in Westpapua zu gestatten, und die EU Indonesien auffordere, alle Sonderberichterstatter und Mandatsträger dauerhaft einzuladen.


Menschenrechtsverletzungen in Westpapua

Das WPN und andere NGOs berichten regelmäßig über die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Westpapua, über die zunehmende Stationierung von Militär in Westpapua und den damit verbundenen Folgen für die Zivilbevölkerung. Seit der Ermordung des Geheimdienstchefs im April 2021 in Westpapua ist die Gewaltspirale in Westpapua weiter eskaliert. In mehreren Landkreisen ist eine hohe Zahl von Binnenvertriebenen auf der Flucht vor dem bewaffneten Konflikt zwischen Sicherheitskräften und Unabhängigkeitskämpfern – sie suchen Schutz in Kirchen, bei Verwandten oder auch im Wald – ohne Zugang zu Nahrung und/oder medizinischer Versorgung. Die International Coalition for Papua berichtete besonders im zweiten Quartal 2021 von der höchsten Anzahl an Binnvertriebenen in Westpapua. Dies steht in direktem Zusammenhang mit der im letzten Jahr verstärkten Militäroperation im Hochland Westpapuas als Reaktion auf den Tod des Geheimdienstchefs. Laut Berichten kam es danach zu massiven Militäreinsätzen – auch aus der Luft – und weiterer Gewalt von Sicherheitskräften gegen indigene Papuas.

Ende 2021 kündigte die Indonesische Regierung an, im Jahr 2022 einen „wohlfahrtsorientierten“ und „friedlichen“ Ansatz in Westpapua umzusetzen. Akteure aus Westpapua schenken dieser Betetitelung jedoch wenig Vertrauen und befürchten, dass der neue Titel dazu dienen solle, um versteckter agieren zu können. Laut Berichten aus Westpapua ist die Situation im Hochland weiter angespannt. Offizielle Zahlen zu der Stationierung von Militär in Westpapua sind nur schwer oder gar nicht zu erhalten. Kontakte berichten jedoch davon, dass es einen Zusammenhang gibt mit plötzlichem, für ein paar Stunden oder einen Tag andauernden, schlechtem Internetzugang und anschließenden Erzählungen über neue Stationierungen von Sicherheitskräften in Westpapua in genau dieser Zeit. Für viele Papuas ist es schwierig, Sicherheitskräften genug Vertrauen zu schenken, um auch Vertrauen in eine tatsächliche Umsetzung des neuen „Friedenseinsatzes“ („Peace Operation“) durch genau diese Akteure zu haben. Nach 60 Jahren bewaffnetem Konflikt und über Generationen geteiltes Leid – besonders im Hochland – ist weiterhin der Ruf nach einem Dialog im Fokus der Forderungen der Papuas. Dieser, so der Wunsch, solle von einer neutralen Partei wie der UN geführt werden.